‘Den Dämonen Nahrung geben’ von Tsültrim Allione


Besprechung: Tsültrim Allione, Den Dämonen Nahrung geben: Buddhistische Techniken zur Konfliktlösung. Vorw. v. Jack Kornfield. Aus d. Amerikanischen v. Erika Ifang. München: Arkana 2009. Sonderausg., ISBN: 9783442341924

Von Frater V∴D∴


Zum Erfolgsgeheimnis des Buddhismus im Westen gehört, seit er im 19. Jahrhundert einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich wurde, seine bis heute anhaltende Psychologisierung. Befördert wurde und wird dies durch seine nicht-theistische Grundhaltung, welche, wiederum im westlichen Kulturraum, zu der nach wie vor gängigen  – wiewohl alles andere als unproblematischen – Gleichsetzung “Buddhismus = eine Philosophie, keine Religion” führte.

Seit den 60er Jahren befasst sich die 1947 geborene amerikanische Autorin Joan Rousmanière Ewing, mittlerweile als Lama Tsültrim Allione lehrend, mit dem tibetischen Buddhismus. Als eine der ersten ordinierten Amerikanerinnen überhaupt erhielt sie im Zuge einer ihrer zahlreichen Reisen nach Indien, Nepal und Tibet 1970 ihre Einweihung vom 16. Karmapa der Karma-Kagyü-Schule. Selbst der Beat-Generation zugehörig, stand sie in regem Kontakt mit prominenten Beat- und New Age-Größen wie Allen Ginsberg, Ram Dass (Richard Alpert) und Chögyam Trungpa.

Aufsehen erregte sie im einschlägig interessierten deutschsprachigen Raum mit ihrem 1986 erschienenen Buch Tibets weise Frauen, in dem sie sich mit der Tradition erwachter Frauen im tibetischen Buddhismus befasst. Leitgestirn ihres weiteren, bis heute anhaltenden Schaffens ist Machig [auch: Macig] Labdrön, eine tibetische Yogini aus dem 11. Jahrhundert, auf deren Chöd-Praxis aufbauend Allione das Konzept des “Fütterns der Dämonen” entwickelte, das sie im vorliegenden Werk vorstellt.

Der Begriff Chöd beziehungsweise Chöd-Praxis (Sanskrit chedasādhanā) bedeutet wörtlich “Durchschneiden”, womit das Durchtrennen von Hindernissen und Verdunkelungen gemeint ist, worunter im tibetischen Vajrayāna-Buddhismus auch Götter und Dämonen sowie das Ego selbst fallen. Entwicklungsgeschichtlich (oder zumindest phänomenologisch) bestehen Verbindungen zum vorbuddhistischen Bön und seinen schamanistischen Praktiken sowie zu seiner späteren Ausgestaltungsform, dem Dzogchen.

In seinem Vorwort fasst Jack Kornfield bereits das gesamte Programm des Buchs und das Kernanliegen der Autorin zusammen:

Die Notwendigkeit einer Transformation der eigenen Dämonen ist universal. Wir alle leiden bisweilen unter unseren Dämonen, seien es Dämonen der Verwirrung, der Wut, des Selbsthasses, der Verletztheit, der Sehnsucht oder des Verlusts. Die geballte Kraft ebendieser Dämonen verursacht gewaltiges Leiden auf der Erde, so etwa andauernde Kriege, Rassismus, Umweltzerstörung und die weit verbreiteten, aber unnötigen Plagen Hunger und Krankheit. Um diese Formen des Leidens zu lindern, müssen wir Menschen uns von Grund auf mit den Dämonen der Gier, des Hasses und der Täuschung auseinandersetzen. Keine noch so große politische oder wissenschaftliche Veränderung wird dieses Leid beenden, wenn wir nicht individuell und kollektiv mit unseren Dämonen umzugehen lernen […] mit größter Genauigkeit und Präzision zeigt sie uns, wie wir die Energien von Sucht, Scham, Krankheit, Angst, Furcht und Wut in die Energie der Befreiung umwandeln können. (S. 9f.)

Aus westlicher Sicht haben wir es hier erneut mit einer psychologisierenden, genauer: tiefenpsychologischen Definition, diesmal eben von Dämonen, zu tun, wie sie etwa der jüdischen, der christlichen und der islamischen Dämonologie eher fremd ist und sich auch in der reichen Literatur der spätmittelalterlichen und neuzeitlichen Grimoarien- oder Grimoire-Tradition nicht explizit wiederfindet. Die Autorin macht dies gleich in ihrer Einleitung deutlich, wenn sie schreibt:

Zu den Dämonen zählen Zwangsvorstellungen, Ängste, chronische Krankheiten und allgemeine Probleme wie Depressionen, Sorgen und Suchtverhalten. Es sind keine blutrünstigen Gespenster, die uns an dunklen Orten auflauern; vielmehr sind es Kräfte in uns selbst, gegen die wir ankämpfen. Es sind innere Feinde, die unsere besten Absichten untergraben. […] Einfacher gesagt: Unsere Dämonen sind das, was wir fürchten. (S. 13-16) 

Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass diese Dämonen in der traditionellen buddhistischen Ikonographie des Vajrayāna immer wieder mit viel Hingabe, Bildgewalt und Kolorit als ebensolche “blutrünstigen Gespenster, die uns an dunklen Orten auflauern”  dargestellt werden. Der Volksbuddhismus mag derlei bildliche wie schriftliche Beschreibungen wortwörtlich nehmen, also von der realen Existenz solcher dämonischen Wesenheiten ausgehen, wie es im abendländischen Raum auch die Grimoires tun – für die Eliten der Schriftgelehrten und Priester/Lamas dagegen sind sie jedoch lediglich Ausdruck der Māyā und somit als eigenständige Entitäten illusorisch, was ihre fundamentale Existenz freilich nicht leugnet, diese aber in den innerpsychischen Raum verlagert.

Die Autorin betont, dass sie selbst zwar in der Tradition des Chöd und seiner Begründerin Machid Labdrön steht; ebenso, dass sie praktizierende Buddhistin tibetischer Prägung ist und diese Richtung des Buddhismus im Westen weiterverbreiten will. Die von ihr in diesem Werk vorgestellten Praktiken jedoch sind nicht rein traditionell, sondern wurden von ihr eigens für ein westliches Publikum entwickelt, das mit der Komplexität der tibetischen Tradition überfordert wäre. Man braucht also kein Anhänger des Vajrayāna zu sein oder werden zu wollen, ja man muss überhaupt nichts vom Buddhismus verstehen, um ihre praktischen Anleitungen umzusetzen.

Der Hauptteil des Buchs beginnt mit einem Zitat von Milarepa (1052–1135), dem bekanntesten tibetischen Yogi, der ja unter anderem auch als Ahnherr der tibetischen Magie gilt:

Die bösen männlichen und weiblichen Dämonen, die eine Unzahl von Plagen und Behinderungen hervorrufen, erscheinen real, ehe man Erleuchtung erlangt hat. Aber wenn man ihr wahres Wesen erkennt, werden sie zu Beschützern, und mit ihrem Beistand und ihrer Hilfe erlangt man zahllose Verdienste. (S. 25) 

Zur praktischen Arbeit mit Dämonen hat die Autorin einen auf dem Chöd basierenden Fünf-Schritte-Plan entwickelt, dessen inhaltliche Grundlagen sie in einzelnen Kapiteln abhandelt: Neben erklärenden Ausführungen stehen dabei Anekdoten und Praxisberichte aus ihrem eigenen Leben und dem anderer Weggefährten, durchwoben mit Zitaten und Axiomen aus der buddhistischen Tradition, ergänzt durch Stellungnahmen und Ratschläge ihrer zahlreichen Lehrer. Auch mannigfache Fallbeispiele erhellen das Verfahren. Das macht die Erzählung nicht nur lebendig, die vorgestellte Praxis wird zugleich ins westliche Leben integriert sowie mit entsprechender Plausibilität und Relevanz untermauert.

Der Fünf-Schritte-Plan, welcher den eigentlichen Aussagekern des Buchs ausmacht, wird im Anhang noch einmal kurz zusammengefasst, was das Nachschlagen im Zuge der praktischen Anwendung erheblich erleichtert. Dennoch wäre kein Leser gut damit beraten, den vorangehenden Text nur zu überfliegen oder gar völlig zu überschlagen: Diese scheinbar so einfache Praxis setzt nämlich einiges an detailliertem Verständnis voraus, damit sie nicht nur eine weitere vordergründige – und somit letztlich wirkungslose –  Psycho-Übung bleibt, wie wir sie in der Esoterik-Literatur ja zuhauf vorfinden. Der Fünf-Schritte-Plan gliedert sich wie folgt:

  • Als Vorbereitung wird eine Atemsequenz empfohlen, die der Herstellung von Entspannung dient.

  • Im ersten Schritt wird der zu bearbeitende Dämon, Abgott oder Dämonenabgott bestimmt und im Körper verortet. Dieses gesteigerte Körperempfinden wird auch hinsichtlich Farbe, Beschaffenheit und Temperatur bewusst gemacht.

  • Im zweiten Schritt wird der Dämon personifiziert und danach befragt, was er braucht.

  • Im dritten Schritt geht es darum, selbst zum Dämon zu werden, also gewissermaßen in seine Haut zu schlüpfen und ihn von innen heraus zu verstehen.

  • Im vierten Schritt wird die Identifizierung mit dem Dämon wieder aufgehoben, dafür löst sich der eigene Körper in “Nektar mit den Eigenschaften des Gefühls auf, das der Dämon haben würde, wenn er satt wäre” (S. 342). Mit diesem Nektar wird der Dämon gefüttert und völlig gesättigt. Nun ist der “Verbündete” aufzurufen: entweder ein Wesen, in das sich der Dämon inzwischen selbst verwandelt hat oder eins, das an seiner Stelle herbeigerufen wird. Diesem werden einige Fragen gestellt, danach wird der Platz mit ihm getauscht und die Fragen werden aus seiner Perspektive beantwortet. Schließlich erfolgt ein erneuter Platztausch und der Verbündete wird verinnerlicht.

  • Der fünfte Schritt trägt den Titel “Im Gewahrsam ruhen”: eine von Zielen befreite geistige Verfassung, die im Wesentlichen der vom Buddhismus stets angestrebten inneren “Leere” entspricht.

Durch diese Praxis wird den Dämonen Alliones Schilderung zufolge die negative Macht genommen und sie verwandeln sich in nützliche, konstruktive Verbündete. Der Effekt, der sich manchmal – wenngleich nicht in der Regel – bereits nach dem ersten Mal einstellt, ist ihrer Erfahrung nach ein völlig anderer als jener der allgemein gängigen konfrontativen Bekämpfung von Dämonen, wie sie (übrigens nicht nur im westlichen Kulturraum) bis heute eher üblich ist. Es ist dies ein gänzlich andersartiger Angang, als wir ihn beispielsweise vom katholischen wie charismatisch-evangelikalen Exorzismus oder aus der Grimoire-Traditionen kennen. Tatsächlich erinnert er an die Herangehensweise der “inneren Stile” asiatischer, vornehmlich chinesischer Kampfkünste, welche den Schwerpunkt der Befassung stärker auf die motorische und seelische Befindlichkeit des Angreifers als auf die des Verteidigers richten.

Nun ist die Personifizierung von persönlichen Ängsten, Traumata, Neurosen usw. in der westlichen Psychotherapie gewiss nichts Unbekanntes, auch die Schattenarbeit der jungianischen Tiefenpsychologie verfolgt ähnliche Ansätze. Allione weist selbst darauf hin, hebt aber auch den Unterschied zu ihrer eigenen Verfahrensweise hervor, denn

die Übung der Dämonenfütterung in fünf Schritten führt doch erheblich weiter. Ihr zusätzlicher Nutzen liegt zum einen darin, dass wir unseren Körper auflösen und für unsere inneren Feinde sorgen, statt sie nur zu personifizieren und mit ihnen in Beziehung zu treten, und zum anderen in der Erfahrung einer nichtdualen meditativen Bewusstheit, die im letzten Schritt dieses Prozesses gemacht wird. Es ist ein Zustand entspannten Gewahrseins, der frei ist von der üblichen Fixierung auf ein “Ich” gegenüber einem “anderen” und uns dort weiterführt, wo die normale Psychotherapie endet. (S. 18)

Das muss man nicht ungeprüft glauben, auch wenn vieles dafür sprechen mag: Letztlich beweist sich Wert oder Unwert dieses Angangs allein in der Praxis. Als innovativ darf er in unserem Kulturraum allemal gelten, und selbst den meisten heutigen Buddhisten Asiens dürfte er weitgehend unbekannt sein. Insofern könnten vielleicht auch westliche, eher auf metaphysischen Krawall gebürstete Dämonenmagier unserer Zeit hier noch etwas dazulernen.

Denn man täusche sich nicht: Chöd ist alles andere als eine harmlose Placebo-Praxis, auch nicht in dieser heruntergebrochenen Variante. So butterweich und gütig die Technik auch daherkommen mag, so sehr sie auch vom buddhistischen Konzept des Mit-Leidens mit allen Kreaturen durchdrungen ist, unterm Strich bleibt unbestritten das Ziel der effizienten Gefahrenabwehr und der Bewältigung gegnerischer Wirkmächte, wenn auch nicht auf dem Weg der unmittelbaren kriegerischen Konfrontation, bei der statischer Aufbau gegen statischen Aufbau gestellt, Schlag mit Schlag abgegolten, Aggression mit Gegenaggression gekontert wird. Auch wenn das uralte Bild inzwischen überstrapaziert wirken mag: Hier zeigt sich tatsächlich, wie das weiche Wasser beharrlich den harten Stein aushöhlt, ihn abschleift, umformt und schließlich auflöst – also eliminiert. Das erinnert an die dunkleren Interpretationen des Christentums, die in der Nächstenliebe eine vergleichbar mächtige Vernichtungswaffe sehen …

Auch die Verwandlung gefährlicher Dämonen in Verbündete, die bei der Bewältigung von Alltagsaufgaben und Lebenszielen ab einer gewissen Entwicklungsstufe der Beziehung wertvolle Unterstützung leisten können, entspricht dem Anliegen der meisten westlichen Grimoires, freilich ohne wie diese mit existenziellen Drohungen, hierarchischen Unterwerfungsmaßnahmen und autoritärer Befehlsgewalt zu operieren. Wenn nichts sonst, so hat Allione auf jeden Fall Geschmeidigkeit und Eleganz, kurzum: Konfliktökonomie auf ihrer Seite.

Die Autorin spielt ihr Thema kenntnisreich in zahlreichen Varianten durch, die hier nicht alle im Einzelnen besprochen werden sollen. Die Überschriften der Kapitel und Unterabschnitte sprechen für sich, daher ein kurzer Auszug: “Machig Labdröns vier Arten von Dämonen”; “Äußere Dämonen”; “Innere Dämonen”; “Abgötter und Dämonenabgötter”; “Krankheitsdämonen”; “Die körperliche Botschaft einer Erkrankung füttern”; “Krebsdämonen”; “Dämonen posttraumatischer Belastungsstörungen”; “Dämonen in der Liebe”; “Suchtdämonen”; “Missbrauchsdämonen”; “Familiendämonen”; “Depressionsdämonen”; “Der Dämon der Selbstbezogenheit”; “Dämonen in der Außenwelt” usw., schließlich auch noch “Politische Dämonen”. Immer wieder durch zahlreiche konkrete Fallbeispiele anschaulich illustriert, gewinnt ihre wuchtige Schilderung nachhaltig an Überzeugungskraft und Substanz.

Ein lesens-, ein bedenkenswertes Buch.

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